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Nach seiner Rückkehr fertigte Sven Nieder
mit Unterstützung eines Freundes eine Camera Obscura an, um
sich im Folgejahr abermals auf den Weg nach Santiago zu
machen.
Was würde er diesmal lernen? Wenn das Gehen – so sein
Grundgedanke – sich nicht mit der zeitgemäßen Form der
Photographie in Einklang bringen ließe, dann mußten die
Bilder eben auf andere Weise erzeugt werden. Sie sollten
von selbst entstehen. Diesmal hieß sein Ziel, Bilder zu
sammeln und nicht zu jagen. Diesmal galt es, keine
Augenblikke, sondern längere Zeiträume zu erfassen. Daher
setzte Sven Nieder die einfache, handgroße Kiste, die weder
mit Linse noch mit Sucher ausgestattet war, während der
Rastzeit wie einen unauffälligen Begleiter neben sich auf
den Boden oder positionierte sie in Baumverästelungen, vor
Kirchen und an Brücken, zumeist in jenen Momenten, wenn er
nach den Anstrengungen eines bewältigen Wegabschnitts
einmal pausieren wollte. Der kleine Klappverschluß wurde
geöFnet, das war alles. Wie beiläufig entstanden die Bilder
der Camera Obscura, allenfalls mit einem gewissen
zeitlichen Aufwand verbunden, denn die kleine ÖFnung mußte
je nach Wetterlage und Tageszeit zwischen zwei Sekunden und
acht Stunden lang Licht ins Gehäuse lassen. Für den
Photographen war die archaische Art der Bildfindung mit
einem völligen Kontrollverlust verbunden, unberechenbar
schien das Ergebnis, zumal Qualitätskriterien wie
Ausschnitt, Tiefenschärfe und Farbverbindlichkeit nicht
gelten konnten. Was half, war einzig Geduld, Vertrauen und
das Gehen selbst. Trotz aller Unwägbarkeiten, die der
geschichtsträchtige Weg, das wechselhafte Wetter und der
eigene Körper bereithielten, erreichte Sven Nieder im März
2004 zum zweiten Mal das Apostelgrab und wenige Tage später
auch jenen berühmten Meeresfels, an dem die Menschen des
Mittelalters das Ende der Welt vermuteten.
Nach seiner Rückkehr zeigte sich, daß die dunkle Kammer
tatsächlich etwas festzuhalten vermochte, was gemeinhin im
Verborgenen bleibt und gerade heutzutage ein zentrales
Mysterium des Jakobsweges bezeich-net. Es ist das Lob der
Langsamkeit, das diese denkbar einfachste Rezeptur der
Photographie feiert, indem sie uns wieder sehen lehrt. Wer
sich genügend Zeit nimmt und die Bilder der Pilgerreise in
diesem Buch auf merksam betrachtet, dessen Augen werden
wortwörtlich enttäuscht werden.
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© Christoph Schaden, Ein
Abdruck des Gehens, aus dem Buch "Santiago - eine
Pilgerreise in Bildern der Camera Obscura"